Gegenseitige Aussetzung der Leistung im Bauwesen nach niederländischen Recht: eine klassische Pattsituation
Kurz zusammengefasst
- Eine Pattsituation entsteht, wenn beide Parteien ihre gegenseitigen Verpflichtungen aussetzen
- Ein Auftraggeber kann während der Arbeiten die Zahlung einer Rechnung aussetzen, wenn er einen fälligen Anspruch auf Nachbesserung gegenüber dem Auftragnehmer hat
- Die Aussetzung muss verhältnismäßig sein.
- Setzt der Auftraggeber die Zahlung zu Unrecht (wegen eines zu hohen Betrags) aus, befindet er sich in Verzug.
Das niederländische Gericht Arnhem Leeuwarden hat kürzlich ein Urteil zu einer klassischen Pattsituation bei der Ausführung eines Bauauftrags gefällt: Ein Auftraggeber lässt eine (Abschlags-)Rechnung des Bauunternehmers unbezahlt, weil er seiner Meinung nach Mängel an der Arbeit festgestellt hat und der Ansicht ist, dass der Bauunternehmer diese zunächst beheben muss. Der Auftraggeber beruft sich also (implizit) auf eine Aussetzung. Der Auftragnehmer weigert sich daraufhin, weiterzuarbeiten, bis seine Rechnung bezahlt ist und setzt somit ebenfalls seine Arbeiten aus. Aber nur eine Partei kann ihre Verpflichtung zu Recht aussetzen. Welche das ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unser Leiter des German Desks und Anwalt für deutsches und niederländisches Recht, Onno Hennis, erläutert diese Faktoren anhand des Urteils in diesem Blog.
Urteil des niederländischen Gerichts
Der Auftraggeber hatte gegen das Urteil des Amtsgerichts in den Niederlanden Berufung eingelegt. Darin wurde entschieden, dass der Auftraggeber keinen Anspruch auf Zahlungsaufschub hatte. Zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Rechnung des Auftragnehmers lag keine fällige Forderung zur Mängelbeseitigung gegenüber dem Auftragnehmer vor. Das bedeutet, dass der Auftragnehmer seine Arbeiten zur Fertigstellung des Auftrags (der Auftrag war noch nicht abgenommen) selbst aussetzen durfte, bis der Auftraggeber bezahlt hatte. Das niederländische Gericht hat dieses Urteil bestätigt und den rechtlichen Bewertungsrahmen noch einmal klar erläutert.
Beurteilungsrahmen des niederländischen Gerichts
Ausgangspunkt bei der Aussetzung in den Niederlanden ist, dass die Partei, die als letzte zu leisten hat, abwarten darf, bis die andere Partei ihre Leistung erbracht hat. Voraussetzung dafür ist, dass die Forderung, die die eine Partei gegenüber der anderen geltend macht, fällig ist und in ausreichendem Zusammenhang mit der noch zu erfüllenden Verpflichtung steht (Artikel 6:52 Absatz 1 und 6:262 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches (BW, Burgerlijk Wetboek)). Wenn sich zwei Parteien gegenseitig auf die Aussetzung berufen, muss festgestellt werden, wer zuerst hätte leisten müssen (bei welcher Partei „liegt” die Erfüllung zuerst, Parl. Geschied. Boek 6, S. 203). In seinem Urteil erwägt das niederländische Gericht, dass zur Beantwortung dieser Frage geprüft werden muss:
- ob die vom Auftraggeber geltend gemachte Gegenforderung (auf Beseitigung von Mängeln) bereits bestand, bevor die Rechnung des Auftragnehmers fällig wurde, und
- ob der Umfang der Mängel (und der Beseitigung) ausreichend ist, um die Aufschiebung zu rechtfertigen (Erfordernis der Verhältnismäßigkeit).
(1) Nachbesserungspflicht während der Arbeiten
Der erste Teil der Beurteilung betrifft den Zeitpunkt des Entstehens der Gegenforderung des Auftraggebers. In diesem konkreten Rechtsstreit stellt sich die Frage, ob der Auftragnehmer bereits vor dem Fälligkeitsdatum der Rechnung (und somit auch vor der Fertigstellung der Arbeiten) zur Nachbesserung verpflichtet war. Denn auch vor der Fertigstellung kann ein Auftragnehmer in den Niederlanden bereits verpflichtet sein, Mängel an den Arbeiten zu beheben. Der Auftragnehmer ist nämlich – neben der Fertigstellung der Arbeiten – zu einer fortlaufenden Verpflichtung zur Erbringung guter und ordnungsgemäßer Arbeiten verpflichtet. In diesem Zusammenhang ist der Auftragnehmer grundsätzlich auch fortlaufend verpflichtet, auftretende Mängel zu beheben.
Diese Nachbesserungspflicht wird im niederländischen Gesetz (Artikel 7:759 BW) zugunsten des Bauunternehmers nach der Fertigstellung eingeschränkt. Der Bauunternehmer ist dann nämlich von der Haftung für Mängel befreit, die bei der Fertigstellung vom Auftraggeber entdeckt und (stillschweigend) akzeptiert wurden. Bei neuen, nicht entdeckten Mängeln muss der Auftraggeber dem Auftragnehmer zunächst die Möglichkeit geben, diese selbst zu beheben. Diese Einschränkung nach der Fertigstellung bedeutet jedoch nicht, dass der Auftragnehmer vor der Fertigstellung nicht bereits verpflichtet ist, Mängel zu beheben. Die Behebung während der Arbeiten gehört zur gleichen primären Verpflichtung wie die Erfüllung des Werkvertrags.
(2) Umfang der Mängel muss die Aussetzung rechtfertigen
Ein zweites Element einer rechtmäßigen Aussetzung nach niederländischem Recht ist die Verhältnismäßigkeit. Nicht jeder Mangel rechtfertigt eine (vollständige) Aussetzung der Zahlung. Der ausgesetzte Rechnungsbetrag muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem zu behebenden Mangel stehen. Beispiel: Die Aussetzung einer Rechnung über 15.000 € ist bei einer falsch angebrachten Tragleiste wahrscheinlich gerechtfertigt, bei einer schlecht verarbeiteten Dichtungsfuge hingegen nicht. Das Gericht hat einmal zwischen Mängeln, die dazu führen, dass die Arbeit nicht dem Vertrag entspricht, und Mängeln, die bei der Abnahme leicht behoben werden können, unterschieden (ECLI:NL:GHARL:2022:3242). Einige Richter wenden auch den Grundsatz an, dass die Aussetzung nicht größer sein darf als die geschätzten Kosten für die Behebung der Mängel, gegen die sie gerichtet ist (ECLI:NL:RBMNE:2023:2141 und ECLI:RBDHA:2017:4571).
Wenn der Auftraggeber die Zahlung zu Recht, aber zu viel aussetzt, schuldet er dennoch diesen (zu viel ausgesetzten) Betrag und gerät bei nicht fristgerechter Zahlung in Verzug. Dann entsteht die Situation, dass der Auftragnehmer die Verpflichtung zur Behebung der Mängel, die der Aussetzung zugrunde liegen, seinerseits wieder aussetzen kann, bis der Auftraggeber zunächst den zu viel ausgesetzten Betrag bezahlt hat. Ein Auftraggeber in den Niederlanden kann also bei einer zu weitgehenden Aussetzung den Kürzeren ziehen.
Zahlungsaufschub wegen Mängeln nach niederländischen Recht
Dass der Auftraggeber auch vor der Fertigstellung aufgrund von Mängeln einen Zahlungsaufschub geltend machen kann, wurde in einem Urteil aus dem Jahr 2014 (ECLI:NL:HR:2014:95) ausdrücklich bestätigt. Darin entschied der Oberste Gerichtshof in den Niederlanden, dass die Tatsache, dass die Arbeiten noch nicht fertiggestellt sind, den Auftraggeber nicht daran hindert, sein Recht auf Aussetzung geltend zu machen. Auch die Tatsache, dass die Mängel noch (vor der Fertigstellung) behoben werden konnten, ist irrelevant. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs „dient das Aussetzungsrecht nämlich gerade dazu, Druck auf den Auftragnehmer auszuüben, damit er die Gegenforderung erfüllt, und hat für den Fall, dass der Auftragnehmer dies versäumt, auch den Charakter einer Sicherheit für die Begleichung (durch Verrechnung) des aus der Unterlassung des Auftragnehmers resultierenden Schadensersatzes”.
Mangelhafte Arbeiten oder noch nicht ausgeführte Arbeiten?
Die Tatsache, dass die Arbeiten noch nicht fertiggestellt sind, ist übrigens für die Feststellung, ob der Auftragnehmer seine Pflichten verletzt hat, relevant. Es muss zwischen (1) mangelhaft ausgeführten Arbeiten und (2) noch nicht abgeschlossenen Arbeiten unterschieden werden. Während der Ausführung eines Auftrags in den Niederlanden ist der Auftragnehmer verpflichtet, mangelhafte Arbeiten zu beheben. Der Auftragnehmer ist jedoch erst zum Abschluss der Arbeiten zum (vertraglich vereinbarten) Fertigstellungstermin oder nach einer (angemessenen) Fristsetzung durch den Auftraggeber verpflichtet. Obwohl dies logisch klingt, ist die Unterscheidung zwischen mangelhafter und „unfertiger” Arbeit nicht immer eindeutig: Die ausgeführte Fertigstellung eines Hauses kann während des Baus noch beschädigt oder schlampig sein, wird aber oft zu einem späteren Zeitpunkt nachgebessert. Dies betrifft dann „unfertige” Arbeiten. Gleiches gilt für den Einbau von Türen und Fenstern, die während der Ausführung noch nicht richtig funktionieren.
Die bloße Tatsache, dass die Arbeiten vor der Fertigstellung noch nicht abgeschlossen sind, reicht daher grundsätzlich nicht aus, um die Zahlung auszusetzen. (Dies ist natürlich anders, wenn Zwischenzahlungen oder sogenannte Meilensteine vereinbart wurden.)
Fazit
In der Regel können die Parteien den Stillstand aufgrund gegenseitiger Aussetzung nicht selbst überwinden. Oft wird erst im Nachhinein – durch das niederländische Gericht – entschieden, wer zu welchem Zeitpunkt zu Recht ausgesetzt hat und wer nicht. Das kann für die Partei, die „im Unrecht” war, sehr nachteilige Folgen haben. Daher ist es sowohl für den Auftraggeber als auch für den Auftragnehmer von großer Bedeutung, sich darüber im Klaren zu sein, ob (1) eine Nachbesserungspflicht besteht und (2) ob der ausgesetzte Betrag verhältnismäßig ist. Darüber hinaus können die Parteien erwägen, gegen Sicherheitsleistung für die Zahlung der Rechnung weiterzuarbeiten und/oder die geltend gemachten Mängel während der Arbeiten von einem Sachverständigen untersuchen zu lassen.
Deutschsprachiger Anwalt für Baurecht in den Niederlanden
Wenn Sie weitere Fragen zum Leistungsverweigerungsrecht und zur Nachbesserungspflicht vor der Fertigstellung in den Niederlanden haben, steht Ihnen unser deutschsprachiger Ansprechpartner für niederländisches Recht und Leiter des German Desk bei AMS Advocaten in Amsterdam, Onno Hennis, gerne zur Verfügung. Herrn Hennis erreichen Sie per Mail an onno.hennis@amsadvocaten.nl oder telefonisch unter +31 20 308 03 15.