Haftung von Geschäftsführern in den Niederlanden: Sind die Geschäftsführer der Tierarztkette Evidensia für nicht (zurück)gezahlte Rentenversicherungsbeiträge haftbar?
Kurz zusammengefasst
- Die Tierarztkette Evidensia hat in den Jahren 2022 und 2023 über einen Zeitraum von sechs Monaten keine Rentenversicherungsbeiträge für mehr als 400 Mitarbeitende gezahlt, obwohl das Unternehmen profitabel war.
- Nach dem Gesetz können Geschäftsführer persönlich haften, wenn Rentenversicherungsbeiträge nicht oder nicht fristgerecht gezahlt werden – insbesondere dann, wenn keine Meldung über Zahlungsunfähigkeit erfolgt ist.
- Die Rentenkasse kann die Geschäftsführer mittels eines Vollstreckungsbescheids zur Zahlung zwingen, wobei auch eine Pfändung des Privatvermögens möglich ist.
- Sollte sich herausstellen, dass die Geschäftsführer bewusst nicht gezahlt haben, obwohl dies möglich gewesen wäre, kann eine persönliche Haftung aufgrund einer unerlaubten Handlung vorliegen.
Gestern veröffentlichte NRC (überregionale Zeitung in den Niederlanden) in einem aufsehenerregenden Artikel, dass Evidensia, das durch Private Equity geführt wird, jahrelang mit den Rentenversicherungsbeiträgen der bei ihr angestellten Tierärztinnen und Tierärzte manipuliert hat. Das jedoch nicht ohne Risiko: Unter bestimmten Umständen können die Geschäftsführer hierfür persönlich haftbar gemacht werden.
Rentenlücke
Nach der Berichterstattung des NRC hat Evidensia in den Jahren 2022 und 2023 über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten keine Rentenversicherungsbeiträge für mehr als 400 seiner Mitarbeitenden abgeführt. Dabei soll es sich um ein Defizit von schätzungsweise mehr als einer halben Million Euro handeln.
Bekannte Beispiele für Missbrauch von Rentenversicherungsbeiträgen in den Niederlanden
Der Missbrauch von Rentenversicherungsbeiträgen kommt häufiger vor, insbesondere in finanziell schwierigen Situationen. So musste Henk Krol im Jahr 2013 als Parteivorsitzender von 50Plus (niederländische Partei) zurücktreten, nachdem die überregionale Tageszeitung de Volkskrant nach Recherchen bekannt gemacht hatte, dass Krol Jahre zuvor als Geschäftsführer der GayKrant die von den Arbeitnehmern einbehaltenen Rentenversicherungsbeiträge verwendet hatte, um finanzielle Lücken im laufenden Geschäftsbetrieb zu schließen.
Auch im Ausland sind entsprechende Skandale bekannt, bei denen Geschäftsführer für erhebliche Rentenlücken verantwortlich waren. Möglicherweise der größte und bekannteste Fall ist der von Robert Maxwell, dem Vater von Ghislaine Maxwell, der in den 1990er-Jahren rund 460 Millionen GBP aus dem Pensionsfonds eines seiner Unternehmen, der Mirror Group, veruntreute.
Zweites Gesetz zur Missbrauchsbekämpfung
Der niederländische Gesetzgeber hat bereits im Jahr 1986 zur Vermeidung von Rentenlücken bei einzelnen Arbeitnehmern eine Regelung geschaffen, die darauf abzielt, Geschäftsführer persönlich haftbar zu machen, wenn die juristische Person es unterlässt, die Rentenversicherungsbeiträge für ihre Arbeitnehmer nicht oder nicht rechtzeitig zu entrichten.
Die Begründung: die persönliche Haftung der Geschäftsführer soll sowohl in der allgemeinen Prävention als auch in der Möglichkeit des Rückgriffs bei Nichtzahlung dienen.
Die Regelung findet ausschließlich Anwendung auf Rentenkassen, bei denen die Teilnahme gesetzlich vorgeschrieben ist, die sogenannten branchenspezifischen Rentenfonds (bedrijfstakpensioenfondsen). Evidensia ist an einen solchen verpflichtenden Rentenfonds angeschlossen.
Strenge Haftungsreglung für Geschäftsführer in den Niederlanden
Für Geschäftsführer gelten in den Niederlanden besonders strenge gesetzliche Haftungsregelungen. Das niederländische Gesetz schreibt nämlich vor, dass eine juristische Person der Rentenkasse unverzüglich melden muss, dass sie nicht in der Lage ist, die Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen. Zugleich muss sie die Gründe für die Zahlungsunfähigkeit darlegen. Unterlässt die juristische Person eine solche Meldung, haftet grundsätzlich jeder einzelne Geschäftsführer persönlich.
Ein Geschäftsführer kann sich in diesem Fall nur dann der persönlichen Haftung entziehen, wenn er glaubhaft macht:
dass es nicht sein Verschulden war, dass
- die Meldung nicht rechtzeitig erfolgt ist und
- die Rentenversicherungsbeiträge nicht gezahlt wurden.
Erfolgt hingegen eine rechtzeitige und ordnungsgemäße Meldung, haftet der Geschäftsführer nur dann, wenn hinreichend dargelegt werden kann, dass die Nichtzahlung der Beiträge die Folge eines dem Geschäftsführer zuzurechnenden, offensichtlich pflichtwidrigen Geschäftsführungsverhaltens innerhalb der drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Meldung war. Der Oberste Gerichtshof (Hoge Raad) hat erst kürzlich entschieden, dass dieses System nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.
Niederländische Vollstreckungsbescheid (Dwangbevel)
Der Gesetzgeber hat den Rentenkassen zudem ein wirksames Instrument an die Hand gegeben, um rückständige Rentenversicherungsbeiträge tatsächlich bei den Geschäftsführern einzuziehen. Wenn die juristische Person das Rentendefizit trotz entsprechender Aufforderung nicht innerhalb von 30 Tagen ausgleicht, kann der Rentenfonds mittels eines Vollstreckungsbescheids den ausstehenden Betrag einschließlich Geldbußen und Zinsen geltend machen. Auf Grundlage eines solchen Vollstreckungsbescheids kann die Rentenkasse nach Ablauf einer kurzen Einspruchsfrist die Zwangsvollstreckung betreiben und unter anderem Pfändungen der persönlichen Bankkonten, des Privatfahrzeugs sowie des Wohnhauses des Geschäftsführers veranlassen.
Meldepflicht
Aus dem Vorstehenden ergibt sich: Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung besonderes Gewicht auf die Meldepflicht gelegt. Dies hängt damit zusammen, dass die Nichtzahlung von Rentenversicherungsbeiträgen in der Regel in Situationen finanzieller Notlagen erfolgt. Die begrenzten liquiden Mittel des Unternehmens werden dann häufig verwendet, um andere Gläubiger als den Rentenfonds zu bedienen. Durch die Einführung der Meldepflicht soll der Rentenfonds frühzeitig über mögliche finanzielle Probleme informiert werden, sodass er seine Position sichern kann, etwa durch den Erlass eines Vollstreckungsbescheids (siehe oben).
Zahlungsunfähigkeit?
Aus dem Zeitungsartikel geht jedoch hervor, dass bei Evidensia gerade keine Zahlungsunfähigkeit vorlag. Im Gegenteil: Auf Grundlage der (erheblichen) Gewinnzahlen schien es Evidensia wirtschaftlich sehr gut zu gehen. Die Geschäftsführer könnten daher geltend machen, dass die Meldepflicht – und damit auch das strenge Haftungsregime – nicht anwendbar sei, weil Evidensia durchaus in der Lage war, die Rentenversicherungsbeiträge abzuführen. Die Frage, die sich dann jedoch stellt, ist, aus welchem Grund die Rentenversicherungsbeiträge dennoch nicht gezahlt wurden.
Gründe für die Nichtzahlung?
Der Zeitungsartikel bleibt in dieser Hinsicht vage. Der niederländische Rentenfonds erklärte, dass er sich noch in Gesprächen mit Evidensia befinde und daher vorerst keine Einzelheiten an die Öffentlichkeit geben wolle. Evidensia selbst verweigert jeglichen Kommentar. Und das wirft Fragen auf. Schließlich sind Rentenversicherungsbeiträge gesetzlich „einfach“ monatlich abzuführen.
Aus dem Zeitungsartikel geht hervor, dass Evidensia über einen Zeitraum von sechs Monaten für Hunderte von Beschäftigten überhaupt keine Beiträge abgeführt hat. Warum geschieht dies, wenn das Unternehmen eigentlich liquide ist? Von der Geschäftsführung darf doch erwartet werden, dass sie weiß, welcher Betrag monatlich einzubehalten und abzuführen ist – nicht zuletzt aufgrund der Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung. Zudem ist Evidensia vom Rentenfonds mehrfach zur Zahlung der Beiträge aufgefordert worden, sodass dem Unternehmen bewusst war, dass gezahlt werden musste.
Haftung aufgrund unerlaubter Handlung in Holland
Aus dem Artikel entsteht das Bild eines Private-Equity-Unternehmens, das Rentenversicherungsbeiträge und andere Arbeitnehmervergütungen bewusst zurückhält. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, verfügt die Rentenkasse – juristisch betrachtet – möglicherweise über einen weiteren Haftungsgrund, um die Geschäftsführer persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Geschäftsführer haften, wenn er bewirkt oder zugelassen hat, dass die Gesellschaft ihre gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Voraussetzung ist allerdings, dass dem betreffenden Geschäftsführer ein persönlich ausreichend schwerwiegender Vorwurf gemacht werden kann. Sollte sich herausstellen, dass die beteiligten Geschäftsführer über einen Zeitraum von sechs Monaten bewusst keine Rentenversicherungsbeiträge abgeführt haben, könnte hierfür eine Grundlage bestehen. Gleichwohl gilt: Zahlt Evidensia die geschuldeten Rentenversicherungsbeiträge letztlich doch noch vollständig, entsteht kein Schaden – und damit auch kein Anlass für eine persönliche Haftung.
Wie geht es weiter?
Der niederländische Rentenfonds hat erklärt, dass es seine Absicht sei, mit Evidensia zu einer Lösung zu kommen und sicherzustellen, dass für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden. Es deutet daher vieles darauf hin, dass Evidensia die Beiträge möglicherweise kurzfristig doch noch abführen wird. Sollte dies nicht geschehen, könnte der Rentenfonds rechtliche Schritte gegen die Geschäftsführer einleiten. Unter dem Druck eines solchen Verfahrens könnte es letztlich dennoch zu einer Zahlung kommen. ## Fragen zum Gesellschaftsrecht in den Niederlanden?
Haben Sie Fragen zum Gesellschaftsrecht oder zur Haftung von Geschäftsführern in den Niederlanden? Unser deutschsprachiger Ansprechpartner für deutsches und niederländisches Recht und Leiter des German Desk bei AMS Advocaten in Amsterdam, Onno Hennis, steht Ihnen gerne zur Verfügung. Herrn Hennis erreichen Sie unter onno.hennis@amsadvocaten.nl oder +31 20 308 03 15.