4 min reading time

Chipunternehmen Nexperia: Niederländische Richter greifen hart durch wegen Verbindung zu China

EN

Zusammenfassung

  • Historischer staatlicher Eingriff in ein privates Unternehmen in den Niederlanden.
  • Niederländischer Wirtschaftsminister wendet erstmals ein Gesetz aus dem Jahr 1952 an
  • Niederländisches Gericht erlässt erstmals, ohne die Betroffenen anzuhören, einstweilige Maßnahmen.

 

Mitte Oktober griff die Unternehmenskammer, eine Sonderkammer des Amsterdamer Berufungsgerichts, die auf Unternehmensrecht spezialisiert ist, bei dem Chip-Hersteller Nexperia wegen erheblicher Bedenken hinsichtlich der Unternehmensführung hart durch. Das Unternehmen gilt als strategisch bedeutsam für die Niederlande und Europa. Der Fall ist einzigartig: Zum ersten Mal erließ der Wirtschaftsminister eine Anordnung Ein Amtsprotokoll ist ein Protokoll über die Amtshandlung eines Gerichtsvollziehers über eine Beschlagnahme, die Feststellung bestimmter Wahrnehmungen oder die Zustellung einer Vorladung oder eines sonstigen...
» Meer over anordnung
Anordnung
auf Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1952 – und die Unternehmerkammer traf sofortige Maßnahmen, ohne die betroffenen Parteien zuvor anzuhören. Unser niederländischer Anwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Onno Hennis, erläutert den Fall.

Hintergrund

Nexperia ist ein ursprünglich niederländischer Hersteller von Computerchips. Im Jahr 2019 wurde Nexperia von Wingtech übernommen, einem chinesischen Investitionsvehikel des Unternehmers Zhang Xuezheng (auch bekannt als „Wing“).
Die Aktien von Wingtech sind an der Börse von Shanghai notiert. Wing hält rund 15 % der Aktien und ist damit Mehrheitsaktionär im faktischen Sinne. Ein Anteil am Gesellschaftsvermögen Anteile sind die Anteile des Gesellschaftskapitals einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Aktiengesellschaft. Unteranteile sind Teile dieser Anteile, wenn diese gemäß der Satzung...
» Meer over anteil am Gesellschaftsvermögen
Anteil
von etwa 30 % der Wingtech-Aktien wird (mittelbar) vom chinesischen Staat gehalten. Wing ist zudem im Vorstand und formeller Geschäftsführer von Nexperia.

Sorgen der westlichen Regierungen

Mehrere westliche Regierungen äußern bereits seit Längerem Bedenken hinsichtlich einer möglichen Weitergabe sensibler Halbleitertechnologien von Nexperia nach China.
So verlangte das Vereinigte Königreich im Jahr 2021, dass Nexperia seinen Anteil an einer dortigen Fabrik verkauft – wegen der Verbindung zu China.
Ende September wurde Nexperia von den Vereinigten Staaten strengen Exportbeschränkungen unterworfen.

Anordnung des Ministers

Anfang Oktober griff der Minister für Wirtschaft und Klimapolitik, Vincent Karremans, ein und erließ auf Grundlage des Wet beschikbaarheid goederen (Wbg) – zu Deutsch: Gesetz über die Verfügbarkeit von Gütern – eine behördliche Anordnung.
Ziel der Maßnahme war es, zu verhindern, dass Komponenten, Wissen und Kapital von Nexperia nach China transferiert werden.
In seinem Schreiben begründete der Minister die Anwendung dieses Gesetzes aus dem Jahr 1952.
Bemerkenswert ist, dass die niederländische Regierung damit erstmals ein verwaltungsrechtliches Instrument einsetzt, um in die Angelegenheiten eines privaten Unternehmens einzugreifen.

Antrag auf Einleitung eines Untersuchungsverfahrens

Fast zeitgleich stellten mehrere Mitgeschäftsführer von Wing im Namen von Nexperia bei der Unternehmenskammer einen Antrag im Eilverfahren,
(i) Wing als Geschäftsführer zu suspendieren und
(ii) vorübergehend einen unabhängigen Geschäftsführer zu bestellen.
Darüber hinaus wurde beantragt,
(iii) sämtliche von Wingtech gehaltenen Nexperia-Aktien treuhänderisch an einen von der Unternehmenskammer zu benennenden Verwalter zu übertragen.

Ex parte-Entscheidung

Die Unternehmerkammer entsprach dem Antrag innerhalb weniger Stunden – ohne Wissen oder Anhörung von Wing oder Wingtech.
Das ist höchst ungewöhnlich: Noch nie zuvor hat die Unternehmerkammer eine ex parte-Entscheidung über einstweilige Maßnahmen getroffen, also ohne die Betroffenen anzuhören.
Eine solche Vorgehensweise steht im Spannungsverhältnis zum fundamentalen Recht auf rechtliches Gehör (Grundsatz des „audi alteram partem“), insbesondere, da die treuhänderische Übertragung von Aktien auch eine Beeinträchtigung des europäischen Eigentumsrechts im Sinne von Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK darstellen kann.

Außergewöhnliche Lage

Die Unternehmenskammer begründete ihr Vorgehen damit, dass der Geschäftsbetrieb von Nexperia infolge der US-Exportbeschränkungen und der ministeriellen Anordnung unmittelbar vom Stillstand bedroht gewesen sei.
Dadurch wäre kritisches Know-how verloren gegangen und die Kontinuität des Unternehmens gefährdet worden.
Die Unternehmenskammer hielt ein sofortiges Eingreifen daher für unvermeidbar, um die Situation „einzufrieren“, bis innerhalb weniger Tage eine inhaltliche Anhörung stattfinden könne – mit ausreichender Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Dialog.

Begründete Zweifel an ordnungsgemäßer Geschäftsführung

Nach vorläufiger Einschätzung der Unternehmerkammer bestanden begründete Zweifel („gegronde redenen“) an der ordnungsgemäßen Unternehmensführung aufgrund
(1) eines Interessenkonflikts zwischen Wing und Nexperia sowie
(2) gravierender Mängel in der Corporate Governance.

Erstens hatte Wing Nexperia veranlasst, umfangreiche Bestellungen bei einem anderen seiner Unternehmen aufzugeben – für Produkte, die weder benötigt noch verwendbar waren –, offenbar um die Verluste des anderen Unternehmens auszugleichen.

Zweitens hatte Nexperia entgegen einer gegenüber der niederländischen Regierung abgegebenen Zusage keinen Aufsichtsrat (Raad van Commissarissen) eingerichtet und diesem keine Entscheidungsbefugnisse eingeräumt.
Im Gegenteil: Unmittelbar vor dem Untersuchungsverfahren entließ Wing seine Mitgeschäftsführer sowie mehrere leitende Angestellte und stärkte damit seine Kontrolle über das Unternehmen weiter.
Diese beiden Umstände hielt die Unternehmenskammer für ausreichend, um das Eingreifen zu rechtfertigen.

Untersuchung und mögliche endgültige Maßnahmen

Bislang hat die Unternehmenskammer kein Untersuchungsverfahren angeordnet.
Nach dem Gesetz muss dies jedoch innerhalb angemessener Frist geschehen.
Der von der Unternehmenskammer bestellte Untersuchungsführer wird seine Ergebnisse in einem Bericht zusammenfassen.
Dieser Bericht ist nicht öffentlich, sondern nur den Verfahrensbeteiligten zugänglich.
Auf Grundlage dieses Berichts kann Nexperia sodann in der sogenannten zweiten Phase die Feststellung von „Missmanagement“ (wanbeleid) beantragen und endgültige Maßnahmen verlangen.
Wing könnte dann beispielsweise als Geschäftsführer abberufen werden; Wingtech kann jedoch nicht gezwungen werden, ihre Aktien zu veräußern.

Geheimhaltung und Öffentlichkeit

Bemerkenswert ist auch der Aspekt der Geheimhaltung:
Zunächst ordnete die Unternehmerkammer für alle Beteiligten strikte Vertraulichkeit an, um Nexperia, Wing und dem Minister Gelegenheit zu geben, stillschweigend an einer Lösung zu arbeiten.
Wingtech machte jedoch kurz nach dem Eingriff über ihren offiziellen WeChat-Kanal öffentliches Aufsehen um das Verfahren, woraufhin die Unternehmenskammer die Geheimhaltungsverfügung für alle Beteiligten aufhob.

Präzedenzfall in den Niederlanden

Es ist äußerst selten, dass in den Niederlanden gleichzeitig der Minister und die Unternehmenskammer in die Geschäfte eines privaten Unternehmens eingreifen.
Der Fall unterstreicht die weitreichenden Befugnisse der Unternehmenskammer, in Krisensituationen tiefgreifende Maßnahmen zu treffen – selbst ohne vorherige Anhörung der Beteiligten.
Für Wingtech (und andere ausländische Anteilseigner) mag dies überraschend sein, doch das niederländische Recht erlaubt der Gerichtsbarkeit, im Interesse der Unternehmensfortführung und der wirtschaftlichen Sicherheit weitgehend in die Unternehmensführung einzugreifen.
Wie die Entscheidungen der letzten Jahre zeigen, ist die Unternehmerkammer insbesondere dann zu weitreichenden Eingriffen bereit, wenn übergeordnete gesellschaftliche Interessen berührt sind.

Anwalt für internationales Wirtschaftsrecht in Amsterdam

Haben Sie weitere Fragen zum internationalen Gesellschafts- oder Wirtschaftsrecht? Unser deutschsprachiger Anwalt Onno Hennis steht Ihnen als Leiter des German Desks von AMS Advocaten und Experte für internationales Wirtschaftsrecht gern zur Verfügung. Nehmen Sie hierfür Kontakt auf per E-Mail an onno.hennis@amsadvocaten.nl oder telefonisch unter +31 20 308 03 15.

Onno Hennis

Onno Hennis

Bei AMS fokussiert sich Herr Hennis auf kommerzielle und gesellschaftsrechtliche Rechtsstreitigkeiten. In diesem Zusammenhang berät er Mandanten in allen Fragen des Gesellschaftsrechts, des Vertragsrechts, des Deliktsrechts und grenzüberschreitende Inkasso. Folgen Sie Onno auf LinkedIn.

Ravel Residence